Ein Land im permanenten Abstieg ISRAEL Ernest Goldberger befasst sich mit den Schicksalsthemen und der Seele seines Landes Von Ludwig Watzal Ernest Goldberger nimmt für sich in Anspruch, eine Analyse des israelischen Kollektivs geschrieben zu haben. Diese hat aber ein gravierendes Manko. So beschreibt er die eine Hälfte der Gesellschaft als gut, wohingegen die andere seiner Verdammnis anheim fällt. Der Leser sollte nicht überrascht sein, wird doch das Gute bei Goldberger mit links und friedens- und ausgleichswillig assoziiert, das Schlechte mit rechts und friedensunwillig, und das Religiöse ist sowieso des Teufels. Dass die Realität oft nicht diesem Schwarz-Weiss-Klischee entspricht, ist dem Autor bekannt. Er hat es selbstbewusst ignoriert. Hat er nicht bei einer Vernissage in Tel Aviv freimütig bekannt, dass ihn Positives in Israel nicht interessiere? Der Autor wird von einer brennenden Sorge umgetrieben: Er will kein Tabu verschweigen, weil er sich Sorgen um die zukünftigen Generationen macht. Goldberger, der 1991 aus der Schweiz nach Israel emigrierte, möchte aus dem "Altneuland" - so der Titel eines Romans von Theodor Herzl - ein "Neualtland" machen. Er ist dieser Ansicht, da man Herzls wirkliche Vision und tragische Familiengeschichte in Israel verschweige, die Israelis nicht an Geschichte interessiert seien und wenn überhaupt, dann nur an ihrer eigenen in Form von Mythen. Für Herzl könne nur ein allgemein anerkannter Staat Bestand haben. Vielen der heutigen israelischen Politiker fehle diese historische Sicht: "Sie opfern das Prinzip der internationalen Anerkennung für ein Stück Boden und bauen dafür lieber auf die Kraft der Armee." Herzls Vision wurde von Achad Ha`am, einem Kulturzionisten, auch deshalb scharf kritisiert, weil er die westliche Zivilisation und die Errungenschaften der Aufklärung zu unkritisch verherrlicht habe. Ha`am warf Herzl vor, seinem Zionismus mangele es an jüdischer Identität. In vier Kapiteln - Prolog, der Traum, die Wirklichkeit und die Hoffnung - behandelt Goldberger Israels Schicksalsthemen, die Vorstellung Herzls und den Zionismus, den Messianismus, die Entleerung der jüdischen Religion, den Kolonialismus im Namen Gottes, die Zerstörung der Umwelt, die nukleare Option, Israels Kriege im Namen von Sicherheit und Heiligkeit und Israels stille Helden. Der Autor sieht Israel in einem permanenten Abstieg begriffen - von den einst frühen, idealistischen Vorstellungen hin zu Enge und Rechthaberei - sowie auf dem Weg der gesellschaftspolitischen Desintegration. Er empört sich gleichermaßen über die fortschreitende Umweltzerstörung, die Aggressivität im Straßenverkehr, die Erschöpfung der natürlichen Ressource Wasser sowie die Atomwaffenindustrie. Für den Autor ist Israel keine Demokratie im klassischen Sinne, weil das Land ein Viertel seiner Bevölkerung gesetzlich diskriminiere. Die Ursache liege darin begründet, dass die Gründungsväter keine klare Trennung zwischen Staat und Religion vorgenommen und einen jüdischen Staat anstatt eines Staates für die Juden geschaffen hätten. In einem besonders lesenswerten Kapitel weist Goldberger auf die nicht aufgearbeitete und abgestrittene Schuld hin, die Israel im Unabhängigkeitskrieg von 1948 durch die Vertreibung oder "freiwillige Flucht" auf sich geladen habe. Infolge dieser kriegerischen Auseinandersetzungen wurden fast 400 Dörfer zerstört, die Besitztümer beschlagnahmt und den Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat bis heute verwehrt. "Dieses Unvermögen ist das größte psychologische und psychosoziale Hindernis für eine Aussöhnung zwischen den zwei Völkern." Die Sorgen über den Fortbestand Israels, die von Goldberger vorgetragen werden, sind auch von den ehemaligen vier Geheimdienstchefs und dem ehemaligen Präsidenten der Knesset, Abraham Burg, in einem dramatischen Appell geäußert worden. Die politische Elite des Landes reagierte aber weiterhin nur mit gewaltsamer Unterdrückung der Palästinenser. Dieses Verhalten sei ein Grund, dass das Land in eine solch existenzielle Krise geraten sei. Ärgerlich ist, dass der Autor seitenweise Skandälchen an Skandälchen aneinandergereiht hat. Teile des Buches erwecken den Eindruck einer Boulevard-Chronik, wie man sie über jedes Land zusammenstellen kann. Goldberger verpasst all den Israelis eine Ohrfeige, die sich für das Land einsetzen und mit denen der Autor nicht übereinstimmt. Trotz alledem liefert das Buch interessante Denkanstöße und ist überaus lesenswert. Ernest Goldberger: Die Seele Israels. Ein Volk zwischen Traum, Wirklichkeit und Hoffnung. Wilhelm Fink Verlag, München 2004, 489 Seiten, 38 Euro.