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Unmoralisch und politisch widersinnig
NAHOST Alain Gresh kritisiert die palästinensischen Selbstmordattentate und das Vorgehen
der israelischen Armee gleichermaßen als gegen die Arbeit der Friedenskräfte gerichtet
Von Ludwig Watzal
Der
seit über 100 Jahren schwelende älteste Regionalkonflikt zwischen Palästinensern
und Israelis wurde in den letzten zwei Jahren durch einige besonders brutale
Kapitel ergänzt. Alain Gresh, Chefredakteur der renommierten Monatszeitung
"Le Monde diplomatique", hat eine kurze, aber sehr prägnante Geschichte des
Nahostkonfliktes vorgelegt. Sie besticht durch die Konzentration auf das
Wesentlichste und ist stark historisch geprägt. Das Buch handelt von der
Entstehung des Konfliktes, von Judentum und Zionismus, der Staatsgründung
Israels und dem Untergang Palästinas, dem Völkermord und dem Leiden des Anderen
sowie der Besatzungspolitik Israel und dem Scheitern des sogenannten Friedensprozesses.
Der Autor gehört zu einer Spezies, die in den sechziger Jahren, der Zeit
der Entkolonisierungsbewegungen, sozialisiert wurde und für die Solidarität
mit den "Verdammten dieser Erde" kein Fremdwort ist. Seine Biographie ist
nicht alltäglich: Gresh wuchs als Kind einer russischen Jüdin und eines Kopten
in Kairo auf; dort besuchte er das französische Gymnasium. Im Einleitungskapitel,
das in Form eines sehr persönlichen Briefes an seine Tochter abgefasst ist,
gibt er Einblicke in seine Weltanschauung: Weder Herkunft noch Religion spielten
irgendeine Rolle. Man verstand sich als integraler Bestandteil der Menschheit,
"Rassenzuschreibungen" waren verpönt, nationale Zugehörigkeit perdu. Gresh
versteht sich als Atheist, respektiert aber die Gläubigen.
Die Ausführungen des Autors sind stark von der französischen Debatte zum
Nahostkonflikt und zum Antisemitismus geprägt. Dies ist jedoch kein Nachteil,
da besonders die politische Elite in Deutschland und den USA davon profitieren
könnte. Diese Debatte "scheint tatsächlich alle Wertvorstellungen zu verwirren".
Sobald über "diesen kleinen Fleck Erde" diskutiert werde, änderten sich die
Prinzipien und Wertvorstellungen. Herausragende Intellektuelle sträubten
sich, wenn es um Palästina gehe, und sie legen oft zweierlei Maß an. Eine
solche Doppelmoral lehnt Gresh ab. Er setzt sich intensiv mit den Holocaust-Leugnern
à la Garaudy auseinander. Der Autor will die Lehren aus dem Holocaust nicht
nationalstaatlich, sondern universell gewendet sehen: "Der Völkermord an
den Juden ist nicht etwas, das sich allen Nichtjuden verschließt, er ist
nicht nur Sache der Juden, er geht alle Menschen etwas an." Obgleich es immer
wieder Versuche der Instrumentalisierung des Holocausts für politische Zwecke
gebe, sind solche "Erpressungsversuche selbstredend zurückzuweisen. Doch
wäre nichts verheerender, wollte man das jüdische - auch das israelische
- Eingedenken auf pure Propaganda reduzieren." Die Shoa lasse sich mit dem
Leiden der Palästinenser nicht gleichsetzen.
Gleichwohl ergreift Gresh die Seite der unterdrückten Palästinenser. Der
Autor kritisiert die Besatzungspolitik Israel. Sie werde dadurch so unvergleichbar,
weil die Besiedlung der besetzten Gebiete die Speerspitze der Strategie Israels
sei. Die Auswirkungen auf die Israelis hatte noch zu seinen Lebzeiten der
renommierte Philosoph Yeshayahu Leibowitz als "Krebsgeschwür" für sein Land
bezeichnet. Der Bau der Umgehungsstraßen und die Verdoppelung der Siedlerzahl
während des Friedensprozesses hätten diesen ab absurdum geführt, so der Autor.
Als einzige Waffe gegen die palästinensischen Terroranschläge wären "entschlossene
Schritte zur Beendigung der Besatzung, zur Schaffung eines palästinensischen
Staates" nötig gewesen. Dazu sei auch Ehud Barak in Camp David nicht bereit
gewesen.
Gresh wendet sich gegen die Politik Ariel Scharons. Dessen Ziel sei nicht
nur, die Autonomiebehörde zu "zermalmen" und die "Zwangsjacke der Osloer
Abkommen loszuwerden", sondern vielmehr "die Kapitulation der palästinensischen
Bevölkerung, ihr Verzicht auf jede Art von Widerstand". Gresh kritisiert
die Selbstmord~attentate gegen die israelische Zivilbevölkerung und die "terroristische
Politik der israelischen Armee" als nicht nur unmoralisch, sondern als "politisch
widersinnig", da sie die Arbeit der Friedenskräfte konterkariere.
Abgerundet wird diese kurze Darstellung durch eine Zeittafel vom Ersten
Weltkrieg bis zur zweiten Intifada sowie acht hervorragende Karten. Dieses
Buch ist sehr verständlich geschrieben; eine außergewöhnliche, ja ausgezeichnete
Abhandlung, die jeder gelesen haben sollte.
Alain Gresh: Israel - Palästina - Die Hintergründe eines unendlichen Konflikts. Rotpunktverlag, Zürich, 2002. 192 Seiten, 19,80 Euro.
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