«Genfer Übereinkunft» Von Anhang X hängt vieles ab Das «Recycling» gescheiterter Abkommen sieht der deutsche Experte Ludwig Watzal in der «Genfer Übereinkunft». Neben Mängeln findet er aber auch Fortschritte. Die inoffizielle «Genfer Übereinkunft» hat grosse Hoffnungen geweckt, dass im Palästina-Konflikt endlich der Ausbruch aus der blockierten Situation gelingt. Sind diese Hoffnungen berechtigt? Ludwig Watzal: Das glaube ich nicht. Deshalb wird die Enttäuschung, wenn dieser Weg scheitert, umso grösser sein. Warum so pessimistisch? Watzal: Was hier vereinbart worden ist, ist für mich das Recycling von gescheiterten Abkommen wie den Oslo-Verträgen und den Versuchen von Camp David im Jahr 2000 und von Taba im Januar 2001. Also gehört alles in den Papierkorb? Watzal: Nein. Das grosse Verdienst der «Genfer Übereinkunft» ist, dass sie der israelischen Öffentlichkeit zeigt: Es gibt Partner, mit denen man ein Abkommen schliessen kann. Die Premierminister Barak und Scharon haben ja stets behauptet, palästinensische Partner gebe es nicht. Zweiter Vorteil für Israel: In der «Genfer Übereinkunft» taucht das Rückkehrrecht der Palästinenser nicht mehr auf. Und trotzdem sind selbst grosse Teile der Arbeitspartei gegen das Dokument. Watzal: Ja. Barak hat das Dokument massiv angegriffen, just mit dem Argument, man habe versäumt, das Rückkehrrecht zu erwähnen. Das heisst doch umgekehrt: Selbst wenn die Palästinenser schon ihm gegenüber in Camp David dieses Recht aufgegeben hätten, hätte er sich damit nicht begnügt, sondern weitere Zugeständnisse beim Land und den Siedlungen verlangt. Barak ist in meinen Augen das Parade- beispiel in der israelischen politischen Klasse für Unaufrichtigkeit. Er selbst hat am 29. August 2003 in der Zeitung «Jediot Achronot» behauptet, er habe in Camp David nicht das kleinste Zugeständnis gemacht. Das Scheitern des Gipfels haben er und Clinton aber Arafat in die Schuhe geschoben. Ist auch jetzt die eine oder andere Seite - oder beide - unaufrichtig? Watzal: In erster Linie nützt das Abkommen dem Leiter der isra- elischen Delegation, Ex-Justizminister Jossi Beilin. Er gründet derzeit eine neue Partei und wird die «Genfer Übereinkunft» als Argument im nächsten Knesset-Wahlkampf verwenden. Das ist ein grosser Trumpf gegenüber der alten Arbeitspartei und auch gegenüber Scharon. Die «Genfer Übereinkunft» hat immerhin politisch schon viel in Bewegung gebracht, wird selbst von ihren Gegnern ernst genommen. Sie muss also Stärken enthalten. Watzal: Durchaus. Sie hat zum Beispiel Scharon unter Legitimations- druck gesetzt. Zudem haben die Palästinenser erstmals und endgültig das Recht des jüdischen Volkes auf einen eigenen Staat anerkannt. Positiv ist weiter, dass alle Siedler, die nach der Grenzanpassung auf palästinensischem Boden sind, nach Israel umgesiedelt werden sollen. Und dass ein souveräner palästinensischer Staat entstehen soll - wenigstens formal. Warum die Einschränkung? Watzal: Das Dokument enthält 52-mal einen Verweis auf den Anhang X - der bisher noch nicht veröffentlicht wurde. Solange das so ist, kann man das Dokument nicht endgültig bewerten. Das war beim Interims- vertrag vom September 1995 ganz ähnlich. Auch dort wurden im Haupt- teil grosse Zugeständnisse gemacht, die in den Anhängen zum Teil relativiert und zurückgenommen wurden. Ist das der grösste Mangel des bisher bekannten Textes? Watzal: Das kann man so sagen. Die Verhandlungsführung war aber überhaupt problematisch. In Artikel 12, der die Wassernutzung regeln sollte, heisst es etwa, obwohl man monatelang verhandelt hat, nur: «Noch auszuführen». Gleichzeitig hat man sich ausführlich darüber ausgelassen, wer wo wann eine Taxikonzession bekommt. Immerhin haben sich diesmal die betroffenen Parteien ohne Einfluss- nahme eines Vermittlers geeinigt. Was kann also am Ergebnis so schlecht sein? Watzal: Ich glaube, dass die palästinensische Seite hier weit reichende Zugeständnisse gemacht hat, ohne sicher zu sein, dass Israel seinen Teil erfüllt. Ist das völlig gerechte und völkerrechtlich saubere Abkommen überhaupt vorstellbar, mehrheitsfähig und umsetzbar? Watzal: Ich glaube nicht, dass es ein ideales Abkommen gibt. Zunächst gibt es diese Asymmetrie in der Machtfrage. Dann aber sind Abkommen immer auch Kompromisse. Eine Richtschnur wäre aber in der Tat das Völkerrecht gewesen. Setzt man den Text der UNO- Resolutionen 194, 242 und 388 um, kommt man zu einem anderen Ergebnis, das in meinen Augen für die Palästinenser vorteilhafter wäre. Aber das scheitert an der Machtfrage. Deshalb betone ich nochmals: Die «Genfer Übereinkunft» ist das weitreichendste Ange- bote von Seiten Israels, es geht weit über Camp David und Taba hinaus. Fragt sich nur: Gibt es auf israelischer Seite einen relevanten politischen Partner, der es unterschreibt? Und könnte Arafat dieses - nicht optimale - Abkommen unterschreiben? Watzal: Die Bereitschaft ist wohl da, auch bei den beiden bisherigen Premierministern Abbas und Korei. Trotz Verzicht aufs Rückkehrrecht? Watzal: Die palästinensischen Urheber des Textes können sich in der Tat vermutlich in keinem Flüchtlingslager und keiner palästinensischen Universität zeigen. Sie haben im Text zwar nicht ausdrücklich aufs Rückkehrrecht verzichtet, sondern bieten den Flüchtlingen fünf Optionen. Eine davon ist die Rückkehr nach Israel, die aber ganz im Ermessen Israels liegt. Und Israel übernimmt keine moralische oder politische Verantwortung, verpflichtet sich zu keinen Entschädigungen. Das finde ich problematisch. Ich bin sicher: Wenn Israel seine Verantwortung am Flüchtlingsproblem anerkennt, ist auch die breite palästinensische Elite bereit, ausdrücklich darauf zu verzichten, dass jeder der heute vier Millionen Flüchtlinge nach Israel gehen kann. Und ein Sinneswandel in Israel ist in diesem Punkt nicht in Sicht? Watzal: In der Prinzipienerklärung, die Israels Ex-Geheimdienstchef Ami Ayalon und der palästinensische Intellektuelle Sari Nusseibe lanciert haben, ist dieser Punkt enthalten. Im Moment sehe ich in Israel aber noch keine Bereitschaft, sich mit der Tragödie von 1948 und der eigenen Geschichte als Unterdrücker der Palästinenser zu befassen und mit sich ins Reine zu kommen, nicht einmal bei Jossi Beilin. Die Israelis, aber auch die Palästinenser müssen endlich aufhören, sich immer nur als Opfer zu sehen. INTERVIEW VON ANDREAS TUNGER-ZANETTI aus: Neue Luzerner Zeitung vom 29.11.2003